06.05.2010, analyse & kritik

„Wir brauchen solidarische Communities“

Gespräch mit Osaren Igbinoba über das Karawane-Festival

Im Juni findet in Jena ein von The Voice Refugee Forum und der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen initiiertes Festival „in Erinnerung an die Toten der Festung Europa“ statt (ak 548). Aufhänger ist die konkrete Situation von Flüchtlingen, doch es geht um mehr: Mit dem viertägigen Großereignis soll ein politischer Ort der Kommunikation, Vernetzung und Selbstorganisierung geschaffen werden – nicht nur unter antirassistischen AktivistInnen, angestrebt ist vielmehr ein bewegungsübergreifendes Crossover. Osaren Igbinoba von The Voice Refugee Forum erläutert im Gespräch einige der Hintergründe (1).

ak: The Voice hat anlässlich des Karawane-Festivals ein ausführliches Positionspapier unter dem Titel „Über koloniale Ungerechtigkeit und die Fortsetzung der Barbarei“ veröffentlicht (2). Der Text ist eine radikale Abrechnung mit deutscher Flüchtlingspolitik, vor allem ihrer „Lager- und Kontrollmentalität“. Zugleich wird ein weiter historischer Bogen gespannt, von der Sklaverei bis zur Ausplünderung durch IWF, Weltbank & Co. Kannst du erzählen, wie es zu diesem Text gekommen ist?

Osaren Igbinoba: Ausgangspunkt war der Mord an Oury Jalloh. Immer wieder fragten wir uns während des Prozesses, wie so etwas überhaupt möglich ist: Beispielsweise die Art und Weise, wie PolizistInnen im Gerichtssaal trotz offenkundiger Lügen glimpflich behandelt wurden oder die Art und Weise, wie Rechtssprechung gänzlich von Wahrheit entkoppelt wurde. Umgekehrt wurde uns hierdurch die Verbindung zu unseren alltäglichen Kämpfen immer bewusster – ob gegen Abschiebungen, gegen Lager oder gegen Residenzpflichtkontrollen. Wir begriffen, dass koloniale Ungerechtigkeit so etwas wie eine gemeinsame Klammer darstellt, das ist der Grund, weshalb wir sie beim Karawane-Festival ins Zentrum unserer Kritik rücken werden.

Was meint ihr genau, wenn ihr von kolonialer Ungerechtigkeit sprecht?

Der Begriff der „kolonialen Ungerechtigkeit“ ist eine andere Form, die imperialistische Entwicklung in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Es geht um Macht, um die Kontinuität der immer gleichen Macht – einschließlich ihrer unterschiedlichen Facetten: Hierzu gehören ökonomische, finanzielle und umweltbezogene Aspekte genauso wie die Festung Europa.

Bei aller Kontinuität, es gab doch auch Brüche...

...ja klar! Heute gibt es in Afrika nationale Unabhängigkeit, das soll nicht bestritten werden. Aber wer hat uns die Nationen gegeben? Das war doch ein Projekt der europäischen Länder! Lass' mich ein aktuelles Beispiel nennen: Die vor Senegal gelegene Insel „Gorée“ war während der Sklaverei einer der großen Tore zur Hölle, von hier wurden Millionen AfrikanerInnen als Sklaven nach Amerika und Europa verschifft. Heute hingegen wird dieser Ort von der EU-Grenzschutzagentur Frontex im Rahmen ihrer Überwachung der afrikanischen Küstengewässer genutzt. Unterm Strich heißt das also: Einer der größten Erfolge der imperialistischen Macht ist es, ihre Stellung immer wieder durch Anpassung neu behauptet zu haben. Das gesamte System kolonialer Ungerechtigkeit ist heute unsichtbarer denn je, vor allem deshalb, weil die Mehrheit sozialer Bewegungen und NGO durch die herrschende Macht weitgehend aufgesaugt wurden.

Du sagst, koloniale Ungerechtigkeit hänge unmittelbar mit Macht bzw. Unterdrückung zusammen. Heißt das, dass ihr euch nicht nur auf Flüchtlinge bezieht - wollt ihr mit dem Festival auch Erwerbslose, prekär Beschäftigte oder Obdachlose ansprechen?

Ja, auf jeden Fall! Wir betrachten die Situation zwar aus unserer Sicht als selbstorganisierte FlüchtlingsaktivistInnen, niemand sollte sich jedoch jenseits des Zugriffs durch die Macht wähnen. Wenn wir es nicht schaffen, die Macht in ihrer alltäglichen Dominanz zu brechen, wird sie uns früher oder später allesamt fesseln. Jede Gruppe – ob erwerbslos oder was auch immer – sollte daher für sich selbst entscheiden, inwieweit sie sich von unserem Aufruf angesprochen fühlt, die Antwort hierauf können und wollen wir niemandem abnehmen.

Was bringt euch zu der Einschätzung, dass die Macht immer stärker um sich greift?

Die staatliche Behandlung von Flüchtlingen ist die ausgefeilteste Form sozialer Unterdrückung überhaupt. Gleichzeitig gilt aber auch: Ist ein Unterdrückungsinstrument erst einmal entwickelt, stellt sich direkt die Frage, wo es sonst noch eingesetzt werden kann. Beispielsweise finden Gutscheine oder residenzpflichtartige Kontrollen inzwischen Anwendung auf Hartz-IV-EmpfängerInnen. Soziales Management ist ein totaler und autoritärer Prozess – diese Logik ist leider menschlich, wenn auch in der Sache unmenschlich.

Wie schätzt ihr denn die Bereitschaft der Menschen ein, aktiv zu werden?

Nun, das ist zweifelsohne eines der zentralen Probleme schlechthin: Bei aller Unterdrückung, Einschüchterung und Beleidigung, oft sind wir selbst unsere größten Feinde. Ob Flüchtlinge oder nicht, die Menschen haben Angst, für ihre Freiheit einzustehen. Stattdessen versucht jeder, mit seinen Problemen allein fertig zu werden, immer in dem Glauben, dass wir in Ruhe gelassen werden, wenn wir uns ruhig verhalten. Doch die Rechnung geht nicht auf, am Ende sind die Probleme noch größer, einfach weil wir Angst gehabt haben, uns selber als machtvoll zu begreifen und Verantwortung zu übernehmen. Auch die Herrschenden wissen dies, bereits seit Jahrhunderten nutzen sie die Angst als Waffe ihrer Wahl.

Und was heißt das praktisch, auf das Festival bezogen?

Mit dem Festival möchten wir einen politischen Ort schaffen, an dem wir uns bewusst aufeinander beziehen und so die Verbundenheit unserer Kämpfe öffentlich zum Ausdruck bringen. Denn klar ist, dass bereits das bloße Zusammenkommen Teil der Lösung ist. Hierzu gehört auch unsere physische Präsenz, denn sie ist unsere Macht, mehr noch: sie ist der ultimative und universelle Wert unserer Würde - niemand kann sie in Frage stellen. Um einen solchen Ort aufzubauen, müssen wir auf jene zugehen, die noch passiv sind, die jeweils nur ihr eigenes Problem im Blick haben – beispielsweise die Höhe ihres Lohnes, das Gutscheinsystem oder die Begrenzung ihrer Bewegungsfreiheit. Unsere Vision ist es, uns zukünftig regelmäßig zu treffen, alle zwei bis drei Jahre. Wäre das der Fall, dann bräuchten wir keine G8-Gipfel mehr, dann hätten wir unseren eigenen, selbstbestimmten Raum, von dem wir uns heute noch gar nicht vorstellen können, welches Potential in ihm steckt.

Inwiefern ist bereits das bloße Zusammenkommen Teil der Lösung?

Um nicht missverstanden zu werden: Es geht nicht darum, dass alle einfach nur ihre eigene Situation darstellen, es geht um wechselseitige Bezugnahme: Wenn du einen Flüchtling als wirklich gleichberechtigten Menschen anerkennen kannst, ist bereits viel gewonnen. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn du nur um dich selbst kreist, wenn du etwa nur mit der Erhöhung deines Lohnes beschäftigt bist, dann ist es schwer vorstellbar, dass es Menschen gibt, die gar keinen Lohn beziehen können bzw. dürfen, obwohl sie schon seit 15 Jahren in Deutschland leben. Die Frage gemeinsamer Verbundenheit ist in diesem Sinne sicherlich eines der größten Probleme.

Nochmal zurück zur Angst: Liegt es wirklich nur an der Angst, dass sich die Menschen nicht politisch engagieren?

Nein, natürlich nicht, es handelt sich um ein grundsätzliches Problem. Selbst Leute ohne Papiere favorisieren oftmals persönliche Lösungen. Vielen fehlt einfach die Geduld, sie sagen sich, 'ich bin doch nicht doof', es gibt kaum Verständnis dafür, dass man nichts kriegen kann, ohne zu geben. Guck' dir nur uns an: Wenn alle Flüchtlinge, die irgendwann einmal The Voice Refugee Forum durchlaufen haben, monatlich 50 Pence spenden würden, wären wir finanziell unabhängig. Fakt ist jedoch, dass wir eine kleine und finanzschwache Organisation sind. Für uns ist deshalb mittlerweile klar: Große Ideen ohne Selbstorganisierung bzw. Selbstbestimmung sind leer. Ein Martin Luther King allein reicht nicht, wir brauchen aktive und solidarische Communities – und dafür wiederum bedarf es politischer Räume, wie wir sie durch das Festival herstellen möchten.

Stichwort Communities: In den letzten Jahren habt ihr euch stark an Organisierungsprozessen unter (pan-)afrikanischen Community-AktivistInnen beteiligt – unter anderem im Rahmen der „Black African Conference“ in Dessau im Januar 2008. Schließt das Karawane-Festival an die diesbezüglichen Aktivitäten an oder handelt es sich um zwei völlig unterschiedliche Projekte?

Nein, es gibt keine direkte Verbindung. Die Black African Conference stand zwar im unmittelbaren Kontext mit der Oury Jallouh-Kampagne, dennoch ging es von Anfang an vor allem darum, die Vernetzung afrikanischer Communities voranzutreiben – ein Ansinnen, was in unseren Augen absolut aufgegangen ist. Inwieweit sich das beim Karawane-Festival bemerkbar machen wird, weiß ich nicht. Dennoch dürfte das Festival in der black Community aufmerksam zur Kenntis genommen werden, denn die Sensibilisierung für die Situation afrikanischer Flüchtlinge hat sich dort in den letzten 2 bis 3 Jahren enorm erhöht.

Lass' uns nochmal einen Themenschwenk machen: In eurem Positionspapier spielt die Analyse globaler Verhältnisse eine zentrale Rolle – Stichwort koloniale Ungerechtigkeit. In euren konkreten Kampagnen geht es allerdings meist um die Situation von Flüchtlingen in Deutschland bzw. Europa. Passt das zusammen?

Du hast recht: Ursprünglich hat der Bezug auf Herkunftsländer eine wichtige Rolle innerhalb der Karawane gespielt – unter dem Slogan „Wir sind hier weil ihr unsere Länder zerstört“. Davon ist jedoch in den letzten Jahren wenig übrig geblieben, insofern könnte es ein wichtiges Signal des Festivals sein, wenn in dieser Hinsicht wieder verstärkt Anstrengungen laufen würden. Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, dass die Situation extrem schwierig ist, insbesondere in Afrika. Nicht nur objektiv, sondern auch deshalb, weil die politische Landschaft weitgehend von äußerst staatstragenden NGO dominiert wird. Was also fehlt, ist die Kultur einer Autonomie des Widerstands.

Was bedeutet das konkret?

In Afrika gibt es kaum BasisaktivistInnen im hiesigen Sinne, also Gruppen bzw. Netzwerke ohne Führer, Boss oder God Father. Sicherlich es gibt organisierte Markfrauen, Taxi-Fahrer, Bauern oder nachbarschaftliche Communities. Sie sind absolut wichtig, auch als politische Bezugspunkte. Es sollte aber auch klar sein, dass es sich in erster Linie um Unterstützungsstrukturen im alltäglichen Überlebenskampf handelt, weniger um politische Initiativen als solche. Insofern drängt sich in Afrika noch dringlicher als bei uns die Notwendigkeit politischer Räume auf – zur Selbst-Ermächtigung, zur wechselseitigen Bezugnahme und zur Bestimmung dessen, was politisch überhaupt gewollt ist, unter anderem im direkten Kontakt mit BasisktivistInnen aus Europa.

Eine letzte Frage: Euer Postionspapier endet überraschend optimistisch, unter anderem heißt es dort: „Weil wir geschichtliche Akteure unseres eigenen Schicksals sind und waren, wird die kommende Welt von uns definiert werden.“ Was hat es damit auf sich?

Bei mir steckt eine ganz persönliche Erfahrung dahinter: Als ich 1995 überraschend mitten in der Nacht abgeschoben werden sollte, ist mir einzig deshalb die Flucht in den Wald gelungen, weil mehrere Dutzend Flüchtlinge durch einen spontanen Aufstand im Lager die Polizei abgelenkt haben. An diesem Aufstand sind Leute aus den unterschiedlichsten Ländern beteiligt gewesen. Das hat mir gezeigt, dass Solidarität grenzenlos ist, daraus ziehe ich bis heute einen wesentlichen Teil meiner Motivation.

(1) Osaren Igbinoba (49): Seit den späten 1970er Jahren aktiv im Widerstand gegen die Militärdiktatur in Nigeria, unter anderem zusammen mit dem Musiker Fela Kuti/Kalakuta Republic und Beko Ransome/Campaign Democracy. 1994 Flucht nach Deutschland, im gleichen Jahr Gründung von The Voice Refugee Forum im Flüchtlingslager Mühlhaus. 1995 entzog sich Osaren Igbinoba in letzter Minute seiner Abschiebung und lebte danach mit Unterstützung antirassistischer Netzwerke ein Jahr ohne Papiere. Als Reaktion auf die Hinrichtung des Schriftstellers Ken Saro Wiwa stellte er sich 1996 den deutschen Behörden und wurde als politischer Flüchtling anerkannt. Er ist Vater eines 6-jährigen Sohnes.

(2) „Über koloniale Ungerechtigkeit und die Fortsetzung von Barbarei“

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